2013-02-09

Brief an eine Abiturientin

Eine Betriebsanleitung für das Leben

Es folgt hier ein Brief von Wolf Schmidt, der an mich gerichtet war - und der auch einige persönliche Bemerkungen enthält. Er hat ihn mir 1959 zu meinem bestandenen Abitur geschrieben, und man erkennt sehr deutlich, wie die Denkweise damals war, aus der heraus diese Lebensregeln erfolgten.

Natürlich war mein Vater bestrebt, mich - als Tochter - im Rahmen des Zeitgeistes der Nachkriegsjahre vor Enttäuschungen und Misserfolgen zu bewahren. Dazu gehört auch, mir nicht zur Rebellion, sondern zur pragmatischen Fügung in die Verhältnisse zu raten. Viele andere Passagen vermitteln aber eine erstaunliche Einsicht in die Kunst, mit anderen Menschen umzugehen und sind heute noch gültig und beherzenswert.

Anja

Brief, erste Seite, Anfang

4. 3. 1959

Liebe Anja!

Was sollte wohl ein Vater seiner Tochter zum bestandenen Abitur schreiben, nachdem Freude, Erleichterung und Lob gebührend zum Ausdruck kamen? Nun, vielleicht eine kleine Zwischenbilanz seit dem eigenen Abitur, ein kleines Selbstinterview über die Kunst des Hineintretens und Nichthineintretens in Fettnäpfchen. Da wir zur Hälfte aus dem gleichen Material gemacht sind und die Situationen, in die der Mensch geraten kann, garnicht so sehr zahlreich sind, wirst Du irgendwann vor ähnlichen kleinen und großen Entscheidungen stehen wie ich. Dann kann vielleicht die Erinnerung an diese oder jene Erfahrung ihres Alten ein Signal für die Junge sein. Es ist ja nicht unbedingt nötig, sämtliche Fehler der vorangegangenen Generationen zu wiederholen.

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Mein Vater hat mich so vermutlich vor beträchtlichen Unannehmlichkeiten bewahrt. Am Tage nach dem Abitur, kurz vor meiner Abfahrt nach Paris zeigte er mir einen Nachbarn, der, solange ich mich an ihn erinnern konnte, im Rollstuhl spazieren gefahren wurde. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, warum wohl. Es war eine Dreiviertellähmung infolge einer verschleppten Syphilis. Das Bild dieses Mannes ist seitdem nie in meiner Erinnerung verblasst. Mit dem weiblichen Gegenstück dazu hast du selbst eine Zeit lang Tür an Tür gewohnt: ein Mädchen aus wohlhabender Familie, durch ein Kind verfemt, vereinsamt, vergrämt, um ihr Erbe gebracht - innerhalb einer Sekunde hat sie die Weiche ihrer Lebensschiene in Richtung Trostlosigkeit und Verbitterung herumgeworfen.

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Sehr viele Annehmlichkeiten sind nur mit dem Risiko erheblicher Unannehmlichkeiten zu erreichen. Und die größten Enttäuschungen im Leben ergeben sich u. a. dadurch, daß unser Wunschdenken die Annehmlichkeiten viel zu hoch und die Unannehmlichkeiten viel zu niedrig einschätzt.

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Was hat mir bisher am meisten geschadet? Zu vieles und zu offenes Reden, ohne daß es notwendig gewesen wäre. Aus Eitelkeit, aus Eifer, aus Rechthaberei und auch aus angeborener Neigung zum Vielreden (die Du leider mitbekommen hast). Gewiss, ich habe mit ihr auch manches erreicht. Aber der Trieb, jedermann zu allem gleich meine Meinung zu sagen, hat mir viel verdorben. Zumal jede Meinung lückenhaft und in kurzer Zeit überholt ist. Überdies will kaum jemand wirklich die Meinung eines anderen erfahren. Man gewinnt nichts, sie ungefragt mitzuteilen, vor allem wenn sie unangenehm ist. Die meisten Menschen sind eitel und empfindlich, was ihre Person und Meinung angeht. Was sie wünschen - auch wenn sie das Gegenteil behaupten - ist nie ehrliche Kritik sondern Bestätigung. Diesen Gefallen braucht man ihnen nicht zu tun. Aber man kann schweigen.

Viele glauben, nicht schweigen zu dürfen, weil es den Eindruck der Dummheit erwecke. Das Gegenteil ist richtig. Wer sein Herz und alles, was ihm gerade durch den Kopf schießt, auf der Zunge trägt, wird insgeheim von den anderen als dumm und unreif angesehen. Man nennt ihn mit einem gewissen Mitleid einen "armen, ehrlichen Kerl". Wer schweigen kann, vermag damit wirksamere Kritik zu üben als durch Argumente. Es macht den anderen unsicher. Es bietet keine Angriffsfläche, es kann als Takt, als Überlegenheit, als Ausdruck gründlichen Durchdenkens gedeutet werden. Es lässt ein Geheimnis. Wir sollten das Geheimnis unseres Inneren niemals und vor niemandem ganz enthüllen, selbst wenn nicht viel zum Verstecken da ist. Am wenigsten sollte es ein junges Mädchen tun.

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Was hat mir bisher am meisten genützt? Bewusstes Streben, mich in die Situation des jeweiligen Gegenspielers hineinzuversetzen, seine Wünsche zu ahnen, seine Argumente vorauszusehen, seine Vorurteile richtig einzuschätzen und seine Schwierigkeiten zu begreifen.

Es gibt nichts Vertrauenerweckenderes, als aus dem Munde eines anderen die eigenen Gedanken richtig dargestellt und verständnisvoll beurteilt zu sehen. Eine der ewigen Sehnsüchte des Menschen ist, sich verstanden zu fühlen. Da sie selten befriedigt wird, reicht oft ein Weniges an Verstehen aus, um impulsive Menschen ein Übermaß an Vertrauen verschenken zu lassen. Das ist nicht logisch - denn Einfühlungsvermögen hat nichts mit Vertrauenswürdigkeit zu tun - aber das Gefühl agiert oft gegen die Logik.

Viele Menschen leiden bewusst oder unbewusst darunter, daß niemand ihnen richtig zuhört. Einem Menschen eine Stunde schweigend zuhören, bringt ihn Dir zehnmal näher, als eine Stunde mit ihm sprechen. Das gilt nicht nur für die Kleinen. Im Gegenteil, diese Art von Einsamkeit wächst mit der Höhe der Position.

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Worin schien mir Selbsterziehung immer am notwendigsten? In der Beherrschung des Tons und des sprachlichen Ausdrucks. Ich neige zu Aufwallungen der Empörung oder Begeisterung, die meistens mit einem deutlich fühlbaren Blutandrang im Kopf verbunden sind. Das führt zu einem zu lauten Ton und überscharfer Formulierung an sich vielleicht richtiger Gedanken. Wenn ich das bei anderen bemerke, macht es auf mich einen schlechten Eindruck, also dürfte umgekehrt dasselbe der Fall sein.

Es gibt Leute, die in solchen Momenten auf 10 zählen, um sich zu fassen, oder vor einem neuen Satz zunächst tief atmen. Wirksamer ist für mich die Vorstellung, wie lächerlich ich wohl auf den anderen wirken mag. Denn jeder Mensch in Erregung wirkt auf den Nichterregten vorwiegend komisch.

Das Rezept, eine solche Aufwallung, die einem vielleicht schon zum Teil herausgerutscht ist, aufzufangen und ihre fatale Wirkung zu stoppen, ist sehr einfach und ein Generalrezept der captatio benevolentiae: man muss sich im gleichen Atem über sich selbst lustig machen und dem ganzen den Anstrich einer scherzhaft gemeinten Show geben.

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Warum hat es die Frau schwerer als der Mann, vor ihren Mitmenschen zu bestehen? Sie wird weitgehend nach ihrem Äußeren beurteilt, muss also weit mehr darauf achten als der Mann. Eine ungepflegte oder gar schlampige Frau stößt auf ziemlich einhellige Ablehnung der Männer.

Sie erwirbt sich zwar leicht die Sympathien anderer Frauen, aber ausschließlich aus dem Grunde, weil sie als Konkurrenz ausscheidet, Männer untereinander reden im allgemeinen nicht sehr taktvoll, oft - auch in sogenannten gebildeten Kreisen - ausgesprochen gemein von Frauen, ohne daß dies übrigens tatsächlich so gemeint ist. Es geht dabei fast ausschließlich um die äußere Erscheinung, nicht um ihren Geist und ihr Gefühlsleben. Der weibliche Verstand ist bei den Männern in letzter Linie gefragt, sie halten nicht viel davon und erwarten nicht viel davon, trotz allem gegenteiligen Gerede. Wenn ein Mann etwa eine Kollegin in höherer Position wegen ihrer Einsicht und Leistungen lobt, so ist zu ergänzen "also wirklich eine Ausnahme". Obwohl sie es Frauen gegenüber wohlweislich nicht aussprechen, sind die meisten Männer davon überzeugt, daß Frauen als Hilfskräfte außerordentlich geeignet sind, jedoch an leitender Stelle nur Scherereien schaffen. Sie fürchten die Frauen nicht eigentlich als Konkurrenz sondern eher wegen der Scherereien, die sie machen könnten. Diese Einstellung ist sicher falsch, aber es ist gut zu wissen, daß sie generell vorhanden ist.

Die dumme wie die kluge Frau sind in gleicher Weise Gegenstand bissiger männlicher Bemerkungen. Es gibt nur einen Typ, der ihnen keine Angriffsfläche bietet und daher ihre Achtung hat: Die äußerlich gepflegte, geschmackvoll angezogene, hübsche Frau mit einer deutlich ironischen und selbstironischen Einstellung.

Sich diesem Typ anzupassen, ist ein Gebot der Klugheit. Äußerlich bedeutet das: eine junge Frau muss so aussehen, als sei sie soeben dem Bad entstiegen und als seien ihre Kleidungsstücke soeben aus der Bügelstube bezw. aus der Reinigungsanstalt gekommen.

Und zwar sollte sie zu jeder Zeit so aussehen. Innerlich bedeutet es keinesfalls Nihilismus sondern vielmehr eine nachsichtig-optimistische Grundhaltung, etwa: "es ist ja dies und jenes nicht so furchtbar wichtig, und ein bisschen lässt sich sogar darüber lächeln". Ein Lächeln, das nicht aus der keep smiling-Retorte kommt, sondern einfach der Ausdruck einer nachsichtigen Grundhaltung den anderen Menschen gegenüber ist, wird zu allen Zeiten das beste Makeup der Frau sein. Es kann aber auch eine Zuflucht sein, um in elenden Stunden Haltung zu bewahren. Nie darf man einer solchen Frau ansehen, daß sie indisponiert ist oder wütend oder schlechter Laune. Sie klagt nicht, sie jammert nicht, sie beschuldigt nicht, auch wenn ihr so zumute ist - denn sie weiß, daß all dies kein Mitleid erweckt, sondern sie lediglich den anderen lästig, ja unerträglich macht. Auch darum hat sie es schwerer als der Mann.

Die Frau hat ihre besten Jahre zwischen 2o und 3o, die des Mannes beginnen erst mit 3o. In diesen zehn Jahren sollte sie sich verheiraten. Auch hierin ist sie benachteiligt, denn noch immer ist der Mann der Wählende, und die Größe ihres Bekanntenkreises hängt ab von dem Gewählt-Werden, sei es auch in unverbindlichster Form. Es ist sinnlos, sich diesen ungerechten, aber gleichwohl vorhandenen Erscheinungen entgegenstellen zu wollen.

Bei der Kürze der Zeit ist es töricht, etwa Ehemöglichkeiten aus dem Wege zu gehen, weil man sich in den Kopf gesetzt hat, erst später zu heiraten. Es ist falsch, einen ernstzunehmenden Bewerber aus solchen Erwägungen von vornherein abzuhängen. Es ist ebenso falsch, in diesem Alter ein Verhältnis einzugehen, von dem man bereits weiß, daß es nicht zu einer Ehe führen wird. Wozu es auch führt, es ist in jedem Fall ein Zeitverlust. Denn der Mann hat Zeit, die Frau hat keine. Darin liegt eine schwerwiegende Benachteiligung.

Allein deshalb können auch bindungsfreie Liebesverhältnisse der Frau niemals unter dem gleichen Gesichtswinkel betrachtet werden wie solche des Mannes.

Für den Mann bedeutet das Eingehen einer Ehe einen Verzicht auf Freiheit, ein Mehr an wirtschaftlicher und moralischer Verantwortung und damit gewöhnlich ein Mehr an Arbeit. Je älter er ist, d. h. je besser er dies übersieht, desto zögernder wird er an eine Ehe herangehen und sich fragen: "Was handle ich dagegen ein?" Und was kann er denn hoffen einzuhandeln? Im Grunde nur eins: ein Mehr an Glück. Wenn die Frau dies nicht erkennt und nicht ihre wichtigste Aufgabe darin sieht, das für seinen Fall richtige zu tun, damit er sich im Großen und Ganzen glücklich fühlt, dann arbeitet sie gegen sich selbst. Wenn eine Frau meint, sie werde um ihrer selbst willen geliebt, so wie sie ist, und ohne irgendetwas noch dazu tun zu müssen, so vergisst sie, daß die Zeit alle Dinge ändert. Man wird nicht schöner, und der Reiz der Neuheit verliert sich rasch. Wenn die Frau es nicht versteht, sich dem Mann anzupassen und ihm -wie es auch immer im Einzelfall angepackt werden muss - ein Zuhause zu bereiten, das er ungern verlässt, dann hat sie die Partie verloren.

Nun ist der Mann gewöhnlich ziemlich skeptisch und glaubt nicht ohne weiteres, daß sich die Dinge so günstig entwickeln werden.

Er befürchtet vielmehr, er werde sich der Frau anpassen müssen, er werde herumdirigiert und zu einem Lastesel gemacht werden, er werde keineswegs ein Mehr an Glück, aber dafür ein Weniger an Ruhe haben und - wie immer sich die Sache auch weiterentwickele - in jedem Fall der Verlierer sein. Um wieviel bequemer ist für ihn eine oder mehrere Geliebte, sagt er sich da leicht. Sie wollen geheiratet werden, und der jederzeit mögliche Abbruch der Beziehung hält sie im Zaum. Das Gesetz ist gegen sie, sie können nichts fordern, nur bitten. Ihr Glück und ihre wirtschaftliche Existenz hängen an einem einzigen Faden, den der Mann in der Hand hält, den er straffen oder lockern oder kurzerhand durchschneiden kann.

Die Geliebte eines Mannes zu werden ist für eine junge Frau ein großes Risiko. Sie wird es unter Umständen eingehen müssen, wenn vermutet werden darf, daß aus dem freien Verhältnis eine Ehe wird. Ist diese Ehe nicht zu erwarten, so können in Endergebnis nur Enttäuschungen und schwere seelische Belastungen dabei herauskommen.

Denn auch darin hat es die Frau schwerer: ihr Seelenleben ist komplizierter, wesentlicher auch für ihre körperliche Konstitution und daher schmerzhafter. Die Frau ist konservativ, sie will das Bestehende erhalten, am liebsten wäre ihr, sie könnte den Uhrzeiger in einem besonders schönen Augenblick anhalten und diesen Augenblick in alle Zukunft weiterleben. Sie hängt an der Vergangenheit und hat immer ein ungewisses Grauen vor der Zukunft.

Das Seelenleben des Mannes ist in viel höherem Maße durch Denkvorgänge bestimmt. Das rein aus dem Gefühl kommende "Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" kennt er im allgemeinen nur in den Entwicklungsjahren. Er kann sein Seelenleben abschalten. Hierzu genügt eine Zeitung oder ein geschäftliches Telefongespräch.

Sein Blick ist immer in die Zukunft gerichtet, er ist ein rerum novarum cupidus. Darin liegt seine Gefahr für die Frau, die ihn liebt.

Eindrucksvolle Beispiele beweisen, daß eine Frau fähig ist, einen Mann weiterzulieben, auch wenn er sie abscheulich behandelt, und wenn der normale Verstand dagegen spricht. Die Liebe der Frau sitzt in ganz anderen seelischen Bezirken als die des Mannes.

Sie besitzt die Fähigkeit, unglücklich zu sein und dennoch zu lieben, während bei ihm die Liebe gewöhnlich mit der Erkenntnis endet, daß er in seiner Vorstellung eine Frau geliebt hat, die in Wirklichkeit garnicht existiert sondern eine völlig andere Persönlichkeit ist.

Trotz und wegen alledem bleibt auch heute das einzige vernünftige Ziel einer normalen jungen Frau: heiraten und Kinder kriegen. Um dahin zu gelangen, muss sie alles einsetzen, was ihr die Natur zu diesem Zweck gegeben hat, und sie muss es mit Vernunft, Geschmack und Maß einsetzen. Da aber auch die Möglichkeit besteht, daß sie nicht heiratet, muss sie zugleich auch ein zweites Ziel ansteuern: einen Beruf, den sie so gründlich erlernt, daß sie damit notfalls auch allein ihren Weg gehen kann.

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Was sollte man von "den anderen" erwarten? So wenig wie möglich.

Indem man erwartet, daß andere Menschen etwas für einen tun, offenbart man einen naiven Egoismus, der übersieht, daß auch "den andern" dieser Egoismus eigen ist und sie daran hindert, etwas zu tun, was sie nicht tun müssen.

Gewiss gibt es spontane Guttaten, hinter denen kein Zweckdenken sondern schöne Nächstenliebe steckt. Sie sind nicht die Regel. Man darf sich über sie freuen und für sie besonders dankbar sein, aber man darf nicht mit ihnen rechnen.

Was man wird, wird man durch sich selbst. Die anderen können als Vorbilder oder warnende Beispiele dienen. Man kann ihren Rat erbitten und ihre Hilfe, und sie werden vielleicht sogar viel helfen.

Das Entscheidende kann man aber nur selbst tun.

Umgekehrt ausgedrückt: Man muss, sobald man nicht mehr Kind ist, die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Man darf nicht anderen die Verantwortung zuschieben und sich hinter ihr verstecken. Bei solchem Verfahren schneidet man sich ins eigene Fleisch. Man kann jemandem zwar sagen "Dafür bist Du verantwortlich". Aber wird der andere das anerkennen und den Schaden ersetzen? Kaum.

Ein sicherer Weg zum Welt- und Menschenüberdruss ist, Hoffnungen in andere zu setzen. Denn Enttäuschungen sind unausbleiblich.

Wer garnichts von den anderen erwartet, wird immer wieder angenehm überrascht werden und finden, daß es im Grunde eigentlich sehr viele nette Menschen gibt.

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Was erzeugt seelische Giftstoffe? Vor allem das Wort "Schuld". Es ist sachlich falsch, wenn man sagt: X hat Schuld an dem Ereignis Y. Richtig wäre: Das Verhalten von X ist die unmittelbare Ursache für das Ereignis Y.

Die namentlich bei gefühlsbetonten Menschen häufige Gleichsetzung Ursache=Schuld erzeugt Zerrbilder der Wirklichkeit. Wer den Ablauf der Dinge im wesentlichen als eine Aufeinanderfolge schuldhafter Handlungen sieht, lebt in einer Welt, die nicht existiert. Durch diese gefährliche Naivität kann es geschehen, das er mit der wirklichen Welt nicht fertig wird.

Unser Egoismus erzeugt in uns sehr häufig die spontane Empfindung "Alle anderen sind schuld, ich allein bin unschuldig". Wenn der Verstand sie ehrlich überprüft, muss er sie als falsch verwerfen. Aber unserer inneren Aufrichtigkeit steht mächtiger Trieb nach Bequemlichkeit als Hindernis im Wege. Es ist soviel bequemer, das für richtig zu halten, was einem gerade in den Kram passt, und Begründungen dafür notfalls an den Haaren herbeizuziehen, als sich mit einer unbequemen Tatsache sachlich auseinanderzusetzen.

Die folgenschwerste aller Sorten von menschlicher Dummheit ist Dummheit, Schuldige zu suchen und leichtfertig zu finden. Auf ihr beruhen alle Sorten von Krieg, vom kleinsten Ehekrieg angefangen, über den Nachbarn- und Betriebskrieg bis zum Rassenkrieg und Weltkrieg.

Kein Problem ist durch Beschuldigung zu lösen, nicht das private, nicht das öffentliche. Jede Beschuldigung ist eine unzulässige Vereinfachung und enthält somit unwahre Bestandteile, ist also in gewissem Umfang ungerecht.

Wenn man bei der Analyse einer Tat alle nicht dem Willen des Täters unterliegenden Ursachenmomente sauber trennt von den echten Schuldmomenten (d. h. von einem vorsätzlich rechts- und pflichtwidrigen Handeln), dann erweist sich, daß alles nicht so einfach liegt, wie es aussieht.

Schließlich pflegt auch jede Beschuldigung eine Gegenbeschuldigung hervorzurufen, und der weitere Verlauf ist gewöhnlich ein Triumph der Dummheit.

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Gibt es Gerechtigkeit? Man kann und soll sie anstreben, aber man wird sie nie erreichen, namentlich dann nicht, wenn man Richter und Partei in einem ist.

Vorsicht vor den Menschen, die die Gerechtigkeit ständig im Mund führen, denn für sie ist die Gerechtigkeit nur ein Hilfsmittel für ihr Wunschdenken.

Gerechtigkeit wird nicht durch Behauptungen erkämpft sondern durch trockene Aufreihung eklatanter Tatsachen. Sind sie nicht vorhanden, so lässt man das Wort besser aus dem Spiel. Sonst wird die Gerechtigkeit leicht zu ihrem Gegenteil verballhornt, der Selbstgerechtigkeit.

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Wie kommt man am besten mit den andern aus?

Sei gleichbleibend freundlich (weder überfreundlich noch mürrisch, verdrossen, wehleidig oder aggressiv)

Lass auch in Deinem Gesichtsausdruck niemanden Deine augenblickliche Laune erkennen.

Vermeide Übertreibungen (zu denen Du sehr neigst). Die Untertreibung trifft die Sache auch und wirksamer.

Geh immer davon aus, daß Deine Meinung niemanden interessiert (und warum sollte sie auch)?

Lass die andern reden und beobachte sie. Es ist sehr viel interessanter, als darauf zu warten, daß man in einer Atempause seine eigene Sache endlich abschießen kann.

Beobachte Dich selbst bei allem, was Du sagst und tust.

Sehe immer aus, wie aus dem Ei gepellt, rieche gut und (gegebenenfalls) schmecke gut.

Vermeide alles Auffallende in Geste und Wort und Anzug. Die Exzentrischen erregen zwar Interesse, aber was für eins.

Versuche das Komische in allen Dingen herauszufinden. Es wird Dich nachsichtig machen.

Klage, beschuldige, schreie und heule nicht, wenn Du Dich nicht lächerlich machen willst.

Wut kann man nicht auf Kommando loswerden. Aber man kann sie ohne Gegenwart von Zeugen abreagieren.

Ein Wort in der Wut ist schlecht. Ein Brief in der Wut ist noch viel schlechter.

Sei haushälterisch mit Deiner Freundschaft. Zurückhaltung und Distanz schaden weniger als voreilige Verbrüderungen, die dann platzen.

Erwecke nie den Eindruck, als wolltest Du ein Alleswisser sein.

Zugegebenes Nichtwissen schadet garnichts. Kühne, aber falsche Behauptungen, nur um was zu sagen, machen Dich im Handumdrehen zum August.

Sei in Diskussionen nicht schüchtern, aber fälle keine Werturteile, sondern kleide Deine Meinungen in die Form von Fragen.

Beobachtung gesellschaftlicher Formen ist nie schlecht. Bist Du bei Fremden eingeladen, bring der Hausfrau eine (winzige) Aufmerksamkeit mit, biete Deine Hilfe in der Küche an, hinterlasse in Gastzimmer und Bad keinerlei Spuren Deiner Anwesenheit und bedanke Dich am nächsten Tag mit ein paar freundlichen Zeilen.

Die Männer sprechen umso schlechter über ein Mädchen, je leichter sie es bei ihr gehabt haben.

Außer Dir selber bist Du niemandem zu voller Aufrichtigkeit verpflichtet, vor allem dann nicht, wenn sie eine Flegelei wäre.

Übe Dich bei jeder Gelegenheit in der Kunst des Schweigens. Sieh keine Katastrophen, wo es sich um ordinäre Pannen handelt.

Von allem, was bei Menschen verzweiflungsvolle Langeweile erzeugt, sind Krankheitsgeschichten anderer am entsetzlichsten.

Man kann nicht auf Kommando Humor haben, aber man kann sich selbst veralbern, wenn man eine Entgleisung anders nicht mehr rückgängig machen kann.

Schau oft in den Spiegel und betrachte Dich gründlich. Du erhältst mehr Auskünfte über Dich, als Dir irgendjemand anders geben könnte.

Schätze Höflichkeiten und Schmeicheleien nicht höher ein, als sie bei nüchterner Betrachtung gemeint sein können.

Misstraue und verdächtige nicht. Es macht hässlich und kostet Nerven. Bis zum Beweis der Schuld hat jeder ein Recht darauf, als Unschuldiger behandelt zu werden.

Geistige Arbeit ist Schweißarbeit. Die Konzentration wird gefördert, wenn man Selbstgespräche führt (die nicht unbedingt zwei Etagen tiefer zu hören sein müssen).

Hat man ein Buch oder einen Komplex Wissensmaterial durchgearbeitet, so soll man die Quintessenz immer in einem Exzerpt festkalten. Am besten in handlichen Oktavbändchen, übersichtlich nach Punkten gegliedert und in Stichworten. Die optische Erinnerung an dieses Exzerpt befestigt den Stoff, macht ihn übersehbar und jederzeit gegenwärtig.

Halte pedantische Ordnung in allen Deinen Aufzeichnungen, sei immer bestrebt, den Überblick zu behalten und das wesentliche eines Komplexes so zu registrieren, daß Du es jederzeit findest. Spare nie mit Papier, sonst verlierst ein Vielfaches seines Wertes an Zeit.

Lesen: non multa sed multum.

Nun, ich könnte diese Notizen natürlich noch fortsetzen, aber im Sinne des letzten Satzes ist es wohl höchste Zeit, daß ich aufhöre. Dieser Brief ist kein Brief. Es ist etwas zum gelegentlichen Nachlesen und Nachdenken. Denn vielleicht ergeben sich auch abweichende Erfahrungen.

Aber nach all Deinen Fleißarbeiten zum Beweis Deiner Hochschulreife wollte ich nun auch mal eine FLeißarbeit liefern, nicht zum Beweis väterlicher Reife, sondern um Dir für Deinen neuen Lebensabschnitt ein wenig zu nützen, und sei es auch nur durch die Herausforderung Deines Widerspruchs.

Brief, letzte Seite, Ende


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