2013-04-07

Muttilein kommt



von Wolf Schmidt

SIE und ER waren nicht allein auf der Welt. Es gab auch noch Verwandte. Genauer gesagt: Schwiegermütter. Noch genauer: eine Schwiegermutter. Denn die andere war weit vom Schuß und zum Glück zu bequem für regelmäßige Reisen. Bei der anderen aber war es das genaue Gegenteil.

„Süßer“, jubelte SIE eines Tages, kurz nachdem diese neue Bezeichnung in das stets wechselnde Repertoire ihrer Kosewörter eingegangen war. „Süßer“, ich hab' einen Brief. Was meinst Du, wer kommt?“

„Na, vielleicht der Weihnachtsmann“, scherzte er noch ohne jede böse Ahnung.

„Ach, Du bist ja dumm, Süßerlein, Küßchen!“ (findet statt).

„Na, wer kommt denn nun, Süßer?“

„Die Müllabfuhr?“

„Ach, Du Affe Du! Muttilein! Muttilein kommt!“

„So.“ Seine Stimmung sank auf zehn unter Null.

„Muttilein kommt. Hattu das kapiert, mein Süßer?“

„Bin ja nicht schwerhörig, Süße!“. Es klang matt.

„Sag mal -- freust Du Dich nicht, daß mein Muttilein kommt?“

„Doch. Unbändig!“

„Du wirst doch nicht etwa wieder so häßlich zu ihr sein wie das vorletzte Mal?“

„Um Himmels willen, nein. Nie wieder! Das hab' ich Dir doch geschworen, und mir auch.“

„In Deinem Blick ist aber so etwas wie Opposition. Du hast etwas gegen Muttilein, und das ist gemein von Dir.“

„Aber nein, ich habe nichts -- --“

„Doch, Du hast. Du willst es nur nicht zugeben, weil Du weißt, daß ich mich dann maßlos darüber aufrege. Und weil Du Dich aufregst, wenn ich mich aufrege. Du willst bloß nicht, daß ich Muttilein gegen Dich in Schutz nehme. Ich lasse sie aber nicht beleidigen und herabsetzen!“

„Aber wer tut denn das?“

„Du bist jedenfalls imstande, es zu tun.“

„Habe ich ein Wort gegen „Muttilein“ gesagt?“

„Da! Wie Du eben „Muttilein“ gesagt hast!“

„Wieso? Ich habe gesagt: Muttilein!“

„Ja, aber mit Gänsefüßchen!“

„Ich soll behauptet haben, daß Dein Muttilein Gänsefüßchen hat?“

„Man hat die Gänsefüßchen deutlich gehört. Ach, und Du bist so ungerecht gegen Muttilein. Sie liebt Dich doch so.“

„Ich bedauere es lebhaft, wenn sich Dein Muttilein ohne Gänsefüßchen -- --“

„Ach, laß diesen Unsinn bitte!“

„Das ist kein Unsinn, sondern eine reine Vorbeugungsmaßnahme.

Wenn mir immerzu Gänsefüßchen untergeschoben werden, muß ich in Zukunft eben ausdrücklich betonen, wenn ich etwas mit oder ohne Gänsefüßchen meine. Ich freue mich ja, daß Dein Muttilein mich liebt -- --“

„Aber?“

„Wieso aber? Ich habe gesagt: ich freue mich, daß Dein Muttilein mich liebt.“

„Nein. So hast Du es nicht gesagt. Du hast es so gesagt, daß ein ‚aber' dahinter kommen mußte. Du hast auf ‚liebt' die Stimme gehoben.“

„Ich habe die Stimme gehoben! Auf ,liebt`! Man wird doch mal die Stimme heben dürfen. Ich habe sie gehoben, weil -- weil Liebe eben so eine erhebende Sache ist. Weil-- weil -- weil ich eben gern mal einen hebe, Donnerwetter nochmal.“

„Ach, das macht mich so entsetzlich traurig, daß Du Muttilein immer insgeheim verspottest. Das macht mich so traurig, daß ich wochenlang weinen könnte.“

„Um Himmels willen, Liebling, gerade das ist es, was ich ja vermeiden will. Du weißt doch ganz genau, daß mir nichts so entsetzlich auf die Nerven geht wie Tränen. Wenn eine Mißstimmung zwischen uns ist, bin ich einfach nicht mehr zu gebrauchen. Ich will doch auf keinen Fall, daß wegen Muttilein irgendein Konflikt zwischen uns entsteht.“

„Muttilein ist die letzte, die einen Konflikt zwischen uns will.“

„Eben. Deshalb hab' ich sie doch auch bei ihrem letzten Besuch im Gegensatz zum vorletzten wirklich mit vorbildlicher Rücksicht behandelt. Das mußt Du zugeben.“

„Ja. Deine Rücksicht war so vorbildlich, daß sie schon peinlich war. Du hast Muttilein behandelt, als ob sie aus Dynamit bestünde und jeden Augenblick losgehen könnte.“

„Sie ist aber nicht losgegangen. Vier Wochen lang ist sie nicht losgegangen."

„Ach, Du mißachtest sie. Wie ungerecht Du bist! Gewiß, sie redet vielleicht 'n bißchen viel. Aber sie hat doch so große Lebenserfahrung, und sie meint es doch nur herzensgut, wenn sie Dir ab und zu Ratschläge gibt, wie Du dies und jenes anders machen solltest. Aber Du bist niemals offen und ehrlich zu ihr, und Du sagst auch mir niemals frank und frei, was Du wirklich über sie denkst.“

Das war zu verlockend, als daß er hätte widerstehen können, sich Luft zu machen. Er holte tief Atem: „Süße! Wenn ich Dir frank und frei sagen würde, daß mich Dein Muttilein ankotzt -- -- --“

Ein gigantischer Tränenausbruch ihrerseits machte ihm sofort das Wahnwitzige seines Unterfangens klar. Mit letzter Kraft suchte er zu retten, was noch zu retten war: „Aber Süße, ich habe doch gesagt: wenn! Wenn -- wenn -- wenn ich etwas so Unqualifizierbares jemals über die Lippen bekäme, dann würde ich lügen! Glatt lügen!! Infam lügen!!! -- Süße, komm, nicht mehr weinen. Es ist doch alles ganz klar zwischen uns. Wir lieben Muttilein! Wir lieben sie bis zum Erbre -- -- --, ich meine, bis zum -- -- zum -- -- -- zum äußersten.

Und wir freuen uns, daß sie kommt. Ja, wir freuen uns! Wann kommt sie denn, Süße?“

„Heute abend“, schluchzte sie.

„Heute abend“, jubelte er mit der letzten Fröhlichkeit, die er angesichts so einer ernsten Bedrohung zusammenkratzen konnte. „Und für wie lange?“

„Ach, bloß für drei Wochen.“

„Bloß? 0, das ist aber jammerschade.“ In seinem Hirn arbeitete es fieberhaft. Ein plötzlicher Einfall, und ohne lange zu überlegen, stürzte er sich schon darauf. „So kurz bloß? Na, das ist aber ein schönes Pech für mich! Da sehe ich ja Muttilein überhaupt nicht in der ganzen Zeit.“

„Wieso?“

„Ja, denke Dir, -- gerade eben wollte ich es Dir sagen, ich -- ich muß nach Hannover, noch heute nachmittag, es hat antelephoniert. Der Dings, der Bernhard ist krank, sehr schwer scheint's. Ich muß ihn vertreten. Na, das ist aber schade. Da mußt Du hier mit Muttilein ganz allein -- --“

„Also, sowas! Was fehlt denn dem Bernhard?“

„Och, es ist ein Dings, eine -- na so ein lateinischer Name, sowas ähnliches wie Aqua destillata. Jedenfalls sehr, sehr ernst.“

„Kann Dich denn niemand anders vertreten?“

„Wo denkst Du hin? Es stehen Tausende von Mark auf dem Spiel.

Wenn ich mich dieser Verantwortung entziehe, stelle ich unsere Existenz in Frage.“

„Ja, aber -- wie lange kann denn das dauern?“

„Gott, Liebling, wer steckt in solchen Krankheiten. Man rechnet mit zirka drei Wochen.“

„Ach, wie dumm. Aber vielleicht kann ich Muttilein bewegen, daß sie zwei Wochen länger bleibt.“

Einen Augenblick blieb ihm die Sprache weg, dann sagte er gefaßt: „Ja, das tu' mal, das wäre wundervoll, und schreibt' es mir rechtzeitig nach Hannover, wenn sie bleibt. Hoffentlich kriegt dann der Bernhard keinen Rückfall.“

„Und Du kannst die Reise wirklich nicht verschieben?“

„Unmöglich! Vollkommen unmöglich! Ich muß mich rasch fertigmachen.“

Es klingelte an der Korridortür. Ein Postbote brachte ein Telegramm. Für SIE!

„Wer schickt Dir denn Telegramme?“ fragte er neugierig.

Sie riß es auf mit tausend bösen Ahnungen.

„Von Muttilein“, strahlte sie aber gleich darauf wieder. „Na so was Wunderbares. Als ob sie es geahnt hätte. Sie kann erst drei Wochen später kommen. Und bis dahin bist Du ja zurück, Lieber, nicht wahr?“

„Wie? -- -- Wieso zurück? -- -- Ach so -- -- Ja. Natürlich.“

„Nun pack' schnell Deine Sachen, sonst versäumst Du mir noch den Zug.“

„Welchen Zug? Ach, den Zug. Ja den -- wenn ich ihn versäume, kann ich es auch nicht ändern. Lust habe ich sowieso nicht für fünf Pfennige, nach Hannover zu fahren.“

„Ich denke, Du mußt so eilig hin?“

„Muß? Na, das ist auch wieder übertrieben. Von müssen kann natülich keine Rede sein, die sollen sich bloß nicht einbilden in Hannover, sie können mit mir herumkommandieren.“

„Aber der Bernhard ist doch todkrank.“

„Das schon. Sicher. Das heißt, todkrank -- so tot wird er auch wieder nicht krank sein -- Ich habe das Gefühl, daß die da doch stark übertreiben. Vielleicht ist es tatsächlich günstiger, man wartet erst mal ab, ob's nicht auch ohne mich geht. Zumindest in der ersten Zeit. Sollen die ruhig mal allein wursteln. Natürlich muß ich später auf jeden Fall mal nach dem Rechten sehen. Und man muß auch die Krankheit von Bernhard sich erst mal in Ruhe entwickeln lassen. Ich finde, es ist viel besser, wenn ich erst zu ihm fahre, wenn -- wenn es ihm schlechter geht.“

„Ja, wann willst Du denn nun eigentlich fahren?“ fragte sie mißtrauisch

„Na, ich denke, so etwa in drei Wochen.“

Das war entschieden zu plump. Du lieber Himmel, in solchen Augenblicken höchster Gefahr, da macht man eben jeden Blödsinn, der einem gerade einfällt.

„Ach, nun begreife ich alles!“, heulte sie wieder los. „Du willst nur Muttilein nicht begegnen, weil Du mich kränken willst! Weil Du meine Familie mißachtest.“

„Aber, Süße, meine Süße!“

„Ich bin nicht Deine Süße.“

„Na schön, dann meine Saure. Mach mir doch um Gottes willen nicht so einen Skandal. Du weißt doch, ich bin nervenkrank. Ich vertrage das einfach nicht --"

„Ach, was liegt mir an Deinen Nerven! Dein Herz ist versteinert Ich lasse mich scheiden.“

„Aber nein doch, Herzchen. Das nutzt mir ja gar nichts. Ich weiß ganz genau, daß Du dann furchtbar unglücklich sein wirst. Und wenn ich weiß, daß Du unglücklich bist, dann bin ich auch unglücklich. Wir wollen doch nicht schon wieder anfangen, uns gegenseitig zu quälen. Komm, komm, ich kapituliere. Ich will ja alles tun, was Du verlangst. Ich will Muttilein von der Bahn abholen, ich will täglich mit ihr spazierenschleichen. Ich will alles geduldig anhören, was sie sagt, und ihr nur die Antworten geben, die sie hören will. -- -- Ich will abends mit ihr Schwarzer Peter spielen und nach ihrer Diät leben -- -- Aber hör um Himmels willen sofort auf, so ein unglückliches Gesicht zu machen.“

„Und Du wirst nicht verreisen?“ fragte sie etwas gnädiger, aber immer noch mit einem jederzeit greifbaren Tränenausbruch in Reserve.

„Nein. Ich werde nicht verreisen. Jedenfalls nicht, solange Muttilein da ist. Das verspreche ich Dir. Aber wenn Muttilein dann wieder weg ist, und ich habe meine Sache gut gemacht, und Ihr wart zufrieden mit mir, darf ich dann wenigstens verreisen?“

„Wozu willst Du denn dann noch verreisen?“

„Wozu? Nach drei Wochen Muttilein? Zur Erholung!“


Alle Original-Texte von Wolf Schmidt


Zum Seitenanfang