Dr. Irene Polke nahm sich diese humanistische Grundbildung nun aus der Sicht der wirklichen Insider vor – der der Altphilologen: „Wer in der Schule noch Altgriechisch gelernt hat“, so leitet sie ihren Aufsatz – auch mit einem Zitat - ein, „wird sich mit einem gewissen Grauen an Thukydides erinnern, diesen Vater aller syntaktischen Verzwicktheit und dunklen Abstraktion.“
Thukydides, Athener, Geschichtsschreiber der Antike. Laut Polke war er dafür bekannt, „dass er den Kriegstreibern seiner Zeit die Maske der Tugend vom Gesicht riss und darunter die nackte Machtbesessenheit zum Vorschein brachte.“
Das Zumvorscheinbringen von Untugenden hat im Schmidtschen Gesamtwerk seinen immer wiederkehrenden festen Platz und dürfte ihn schon in seiner Jugend beschäftigt haben. Deshalb ist es sicherlich kein Zufall, dass mein Vater Thukydides auswählte, als er seine altgriechischen Kenntnisse in der Schule in Form einer Übersetzung*** unter Beweis zu stellen hatte.
Diesen Umstand nun herauszustellen - und damit eine der vielen Facetten von Wolf Schmidt – hat Dr. Irene Polke in dankenswerter Weise als eines der schönsten Geburtstagsgeschenke an ihn vorgelegt.
Michael Schmidt
* Polke, Irene: “Eingepflanzt ins Herz der Menschen.” Zum 100. Geburtstag von Wolf Schmidt (19.2.1913 – 17.1.1977). In: Forum Schule 60,1–3 (2013) S.36–40.
** Hesselbachfolge 20 (Das Gewitter) Vater: „Ihr seid wohl verrückt! Ich soll ein Loch mit einer Stecknadel zugesteckt hawwe...? [...] Mich störnse net, im Gegenteil, die könne drinbleiwe, als Monument!“ Peter: „Exegi monumentum...“ Vater: „...aere perennius, sehr richtig.“ Zitat aus Horaz, Carmina 3,30,1 „Ein Denkmal habe ich mir gesetzt, dauernder als Erz.“
*** Thukydides: Logos Epitaphios (Hist. 2,34–46). Neu übertr. von Wolfgang Schmidt (Maschinenschrift, 1930). Hrsg. von Irene Polke. In: Forum Schule 60,1–3 (2013) S.40–46.
Dr. Irene Polke
EINGEPFLANZT INS HERZ DER MENSCHEN
Zum 100. Geburtstag von Wolf Schmidt (1913 – 1977)
„Wer in der Schule noch Altgriechisch gelernt hat, wird sich mit einem gewissen Grauen an Thukydides erinnern, diesen Vater aller syntaktischen Verzwicktheit und dunklen Abstraktion.“ So Jens Jessen 2002 in der Literaturbeilage der Zeit. Ähnlich im New York Review of Books 2010 Mary Beard: „Thucydides wrote his History of the Peloponnesian War in almost impossibly difficult Greek [... ;] his History is sometimes made almost incomprehensible by neologisms, awkward abstractions, and linguistic idiosyncrasies of all kinds.“ Mit dieser Einschätzung stehen Jessen und Beard nicht alleine – sie stehen in einer langen Tradition: Schon Dionysios von Halikarnass, der im 1. Jh. v. Chr. eine ganze Abhandlung Über den Charakter des Thukydides verfasste, „complained – with ample supporting quotations – of the ‚forced expressions‘, ‚non sequiturs‘, ‚artificialities‘, and ‚riddling obscurity‘“ des berühmten Historikers. „‚If people actually spoke like this‘, he wrote, ‚not even their mothers or their fathers would be able to tolerate the unpleasantness of it, in fact they would need translators, as if they were listening to a foreign language.‘“
Berühmt ist Thukydides, der Athener, der den Peloponnesischen Krieg als Notwehr Spartas gegen den Machtanspruch und Machtzuwachs Athens verstand, vor allem dafür, dass er den Kriegstreibern seiner Zeit die Maske der Tugend vom Gesicht riss und darunter die nackte Machtbesessenheit zum Vorschein brachte. Dieser schonungs- und illusionslose, geradezu medizinische Blick auf die menschliche Natur lässt sein Werk auch wirklich das sein, was es sein will: ein „Besitz für immer.“
So lesenswert dieses Werk also nach wie vor, und vielleicht sogar mehr denn je, wäre – von heutigen Schülerinnen und Schülern, unter heutigen Lernbedingungen, kann es aufgrund seiner Sprachgestalt fast nicht mehr gelesen werden. Umso mehr frappiert die Leistung eines Schülers von 1930: Wolf Schmidt, Oberprimaner an der Augustinerschule Friedberg und als Sohn des dortigen Musik-, Latein- und Griechischlehrers Prof. Dr. Karl Schmidt auch selbst musikalisch und sprachlich begabt, hat in jenem Jahr den Logos Epitaphios des Thukydides im Umfang von acht ‚Oxford-Seiten‘ vollständig ins Deutsche übertragen.
Das Ergebnis hat er mit einer klapprigen alten Schreibmaschine ohne die heute selbstverständlichen Korrekturmöglichkeiten sauber abgetippt, handschriftlich betitelt und eigenhändig zu einer Art Broschüre gebunden – welche Bedeutung muss der Text für ihn gehabt haben! Und was gibt wiederum dies zu denken: dass sich zwei Jahre vor der Machtergreifung Hitlers und acht Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs ein deutscher Abiturient mit der Grabrede, die Perikles auf die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges gehalten haben soll, so ausdauernd und so eingehend befasste …
Sicher könnte, wer nun dringend seinen Rotstift nutzen wollte, auch in dieser Arbeit Anlass dazu finden. Doch erwiese er damit sich selbst als klug? Angesichts der eingangs beschriebenen Eigenart des Thukydideischen Stils wäre eine Übersetzung, die sich sklavisch genau an die Ursprungssprache hielte, doch schlimmstenfalls eine unlesbare, unbrauchbare und in diesem Sinne schlechte Übersetzung. Umgekehrt gilt nach Mary Beard: „[T]he ‚good‘ translations of his History (those that are fluent and easy to read) give a very bad idea of the linguistic character of the original Greek. The ‚better‘ they are, the less likely they are to recollect the flavour of what Thucydides wrote.“
Dies bedenkend, sollte auch der Beckmesser seinen Rotstift schnellstens wieder wegstecken und sich lieber an seiner Muttersprache erfreuen, d.h. daran, mit welcher Stilsicherheit und Eleganz, welchem Gespür für Rhythmus und Melodie hier ein erst 17jähriger Schüler vertracktes Griechisch in schönes Deutsch „übertragen“ hat.
Daraus wird bei Georg Peter Landmann: „Anders als unsere Gegner sorgen wir auch in Kriegssachen. Unsere Stadt verwehren wir keinem, und durch keine Fremdenvertreibungen missgönnen wir jemandem eine Kenntnis oder einen Anblick, dessen unversteckte Schau einem Feind vielleicht nützen könnte; denn wir trauen weniger auf die Zurüstungen und Täuschungen als auf unseren eigenen, tatenfrohen Mut. Und in der Erziehung bemühen sich die anderen mit angestrengter Übung als Kinder schon um Mannheit, wir aber mit unserer ungebundenen Lebensweise wagen uns trotz allem in ebenbürtige Gefahren.“
Bei Wolf Schmidt heißt es dagegen: „Ferner unterscheiden wir uns auch in der Auffassung des Krieges von unseren Gegnern. Wir lassen die Stadt für jedermann geöffnet und haben keine strenge Fremdenpolizei, die eifrig hinter allem schnüffelt und sorgt, dass niemand etwas höre oder schaue, was dem Feind zu wissen nützlich wäre. Unsere Stärken sind nämlich nicht umfangreiche Vorbereitungen und Kriegslisten, sondern persönlicher Mut und Tapferkeit. Sie wollen durch wüste Abhärtung aus Kindern Männer machen. Wir leben ruhig dahin, doch wenn es gilt, Gefahren zu bestehen, sind wir an Kühnheit jenen ebenbürtig.“
Wirkt die Schülerübersetzung von 1930 nicht sogar frischer als die Expertenübersetzung von 1976?
Ein solches exemplum virtutis verdient eine Veröffentlichung in der Zeitschrift des Hessischen Altphilologenverbandes natürlich erstens als es selbst. Es verdient sie aber zweitens auch als unbekanntes Frühwerk von Wolf Schmidt. Denn Wolf Schmidt ist hier in Hessen ja nicht irgendwer.
Er ist der Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller eines 'Straßenfegers' der 60er Jahre, den noch heute jeder wahre Hesse kennt: der Hesselbachs. Insgesamt 51 Folgen dieser Alltagschronik einer kleinen Verlagsdruckerei irgendwo im Hessischen wurden zwischen 1960 und 1967 vom HR produziert, mit Höhepunkten wie Die Hochzeit, Die Erbschaft, Das Gewitter, Das Dreckrändche, Der röhrende Hirsch und Simulanten.
Grandiose Darstellerinnen wie Liesel Christ, Lia Wöhr, Sophie Cossaeus und Gudrun Gewecke sorgten durch ihre umwerfend komischen und erschreckend authentischen Charakterzeichnungen für Einschaltquoten von bis zu 94 % (!). Kultstatus aber erlangte die Serie erst durch den unerschöpflichen Ideenreichtum, funkelnden Geist und sprühenden Witz, durch das schäumende Temperament, durch die virtuose Sprachbeherrschung, genaue Menschenkenntnis und tiefe Weisheit ihres Erfinders: Wolf Schmidt war „Babba Hesselbach“ – und er ist in dieser Rolle unsterblich geworden.
Ein Grabmal hat Wolf Schmidt für sich nicht haben wollen.
Was er in der Jugend bei Thukydides gelesen hatte, blieb ihm im Alter auch durch den Schleier der Alzheimer-Krankheit hindurch erkennbar und wichtig – die Worte aus der Gefallenenrede, die er selber so übersetzt hatte: „Das prächtigste Grabmal haben sie sich selbst errichtet, herrlicher als dieses hier, das nur ihre sterblichen Reste birgt: Wenn man bei Menschen je von Tapferkeit und Tugend redet, so wird man ihrer immerdar gedenken und ihren Ruhm erneun. Das ist ihr Grabmal! Bedeutenden Männern ist die ganze Erde letzte Ruhestätte. Ihr Ruf reicht weiter als die Inschrift auf dem Grab im Vaterlande, lebt ungeschrieben fort in nahen und in fernen Ländern, eingepflanzt ins Herz der Menschen.“
Irene Polke
Den vorstehenden Text (bebildert und mit Quellenangaben, sowie der kompletten Übersetzung) können Sie als PDF hier herunterladen (ca. 1 MB).